Fünfte Übung – Grundzüge des Melodiebaus

Mit der Einführung der ersten fünf Melodieformeln wird es notwendig, sich mit dem Mechanismus der Melodien zu beschäftigen. Bisher wurden den aus dem Zusammengehen zweier Stimmen entstehenden Zusammenklänge Töne und Figuren zugefügt, statt von den ur­sprünglichen melodischen Erscheinungen auszugehen und ohne etwas über ihre Funktion innerhalb der melodischen Gesamtanlage zu wissen. Diesem fehlenden umfassenden Blicke widmet sich die vorliegende Übung. Sie zeigt, auf welche Weise Melodien gebaut werden, wie ihre einzelnen Bestandteile zusammenhalten und wie sie auf längere Strecken zu lenken sind.

Arbeitsmaterial

Die Ergebnisse der vorangehenden Aufgaben – die mit Melodieformeln versehenen zweiten Stimmen – sind Ausgangspunkt der neuen Ar­beiten. Die Melodievorlagen werden für kurze Zeit gänzlich außer Acht gelassen. Hier stehen vorerst die melodischen Vorgänge der ver­zierten zweiten Stimme im Mittelpunkt.

Arbeitsvorschriften

Für die aus der zweiten Stimme entstandenen Melodien lässt sich feststellen, dass sie auch losgelöst von ihrer Führerin, der Melodievorlage, selbstständigen Lauf und Ausdruck besitzen und ohne weitere Zutaten verständlich sind. Mit dem Hinzufügen von Melodieformeln zu der ursprünglich eng an die Vorlage gekettete Stimme muss also in die tönereichere Linie eine Bewegung höherer Ordnung gekommen sein, welche wohl noch äußerlich an die ursprüngliche hinzugefügte Stimme erinnert, in ihrem eigentlichen Wesen jedoch noch anderen Ge­setzen gehorcht. Neben den rhythmischen und formalen Elementen, die von der Einführung von Takt und Metrik herrühren und vorerst außer Acht gelassen werden sollen, widmet sich diese Übung den Eigenheiten der Setzweise der kleinen Stücke.

Das Ineinandergreifen von harmonischen und melodischen Elementen war schon Teil früherer Betrachtungen; die aus den harmonischen Gegebenheiten resultierende melodische Bewegung war in der zweiten Übung gänzlich mit dem Verlaufe der beiden Stimmen, also ihren melodischen Linien verknüpft. Wie sich also in den zusammenklingenden Intervallen ihre Entstehung aus Tonschritten nachweisen lässt, muss die harmonische und melodische Doppeldeutigkeit des Einzelintervalls auch harmonische Gruppierungen in den Melodiezügen bilden.

Regel 43 In allen Melodien schliessen sich Töne zu harmonischen Zellen zusammen, die aus gebrochenen Intervallen von Zusam­menklängen der Gruppe A bestehen. Die Zellen können scharf voneinander getrennt sein, sie können aber auch so ange­ordnet sein, dass sie ineinander greifen oder dass kleinere in größere eingebettet sind. Die Bedeutung der Zellen wird durch die rhythmische Stellung und den Zeitwert ihrer Bestandteile beeinflusst.

Hierzu sei zu bemerken, dass die Wahrnehmung harmonischer und melodischer Eigenschaften stark von dem verschiedenen Grade der Be­gabung, der Gewandtheit und der Bereitwilligkeit des Hörenden abhängt. Den Zusammen­klang von P8 und P5 kann das Ohr mit fehlerloser Eindeutigkeit feststellen, für die harmonische Gruppierung der aufeinanderfolgenden Töne einer harmonischen Linie, für die Abgrenzung der Zellen steht ihm jedoch eine gewisse Freiheit zu. Es kann keine Zellen hören, wo keine sind, aber es ist auch nicht gezwungen, sämtliche überhaupt möglichen Zellenbildungen in einer Melodie zu registrieren.

Regel 44 Außer den harmonischen Zellen kommen in den Melodien größere harmonische Zusammenschlüsse vor. Sie bestehen aus gebrochenen Dreiklängen oder anderen leichtverständlichen gebrochenen Akkorden. Diese zusammengeschlossenen Har­moniegruppen werden als harmonische Felder bezeichnet.

Die harmonische Zelle sowohl wie das harmonische Feld haben infolge ihrer auf mehrere Töne wirkenden Bindekraft immer die Neigung, den melodischen Verlauf zu hemmen. Sie sind innerhalb des ständigen Vorwärtsdrängens der Melodieläufe die Partien des angenehmen Verweilens, der beschaulichen Schönheit, so kurz auch diese Verzögerungen auch sein mögen. Die vorwärtsdrängenden Tongruppen, welcher der Verzögerungen entgegenwirken, sind als die melo­dischen Floskeln bereits bekannt.

Regel 45 In Melodien gibt es zwei Arten von Tongruppierungen. Die verzögernde Gruppierung wird durch harmonische Zellen und Felder gebildet, die beschleunigende Gruppierung rührt von den verwendeten melodischen Floskeln.

Zellen und Felder einerseits, melodische Floskeln andererseits ergeben im besten Falle eine mehr oder weniger schöne und brauchbare Zusammenstellung von Tongruppen; irgendein Zwang, der ihre Reihenfolge, ihren Abstand, ja selbst ihre Höhenlage in eine übersichtliche Ordnung bringen würde, ist in ihnen selbst nicht enthalten. Zur Erzielung solcher Ordnung gibt es wiederum zwei Mittel, von denen das eine ebenfalls verzögernder, das andere beschleunigender Natur ist.

Das erste ist so leicht zu begreifen wie es anzuwenden ist. Es besteht in der öfteren Wiederkehr eines Tones, nachdem andere Töne in­zwischen erklungen sind. Es ist verständlich, dass ein solcher Ton, der nach Art einer Achse die mannigfachen Zellen, Felder und Formeln verbindet, einen sehr dichten Zusammenschluss hervorrufen muss, der sich hauptsächlich auf die Höhenlage der Melodie bezieht. Die Ge­fahr, welche in der außerordentlich stark anziehenden Kraft eines solchen häufiger auftretenden Tones liegt, ist ebenso leicht zu erkennen: Er kann die Melodie am Aufschwung hindern, kann jede durch andere Mittel erzielte Entwicklung zunichte machen. Es ist also bei der An­wendung dieses Bindemittels im Melodiebau zu großer Vorsicht zu raten.

Das zweite, die melodische Ordnung regelnde Mittel ist der Sekundgang. Seine Aufgabe ist allerdings nicht mit der Aneinanderreihung nahe beieinander liegenden Tönen zu enggliedrigen Sekundketten erschöpft – in dieser Form trat er in den vorherigen Übungen auf – seine eigenliche Wirkung erstreckt sich auf Bindungen höherer Art.

Regel 46 Um einen Melodieverlauf zu organisieren, dass er selbst beim kompliziertesten Aufwand von Tönen, Schritten und Rhyth­men verständlich erscheint, bringt man seine Hauptpunkte in einer Reihe auf- und absteigender Sekundschritte an (Sekund­gang). Sekundgänge können an jeder beliebigen Stelle der Melodie anfangen und aufhören, sie brauchen nicht ununter­brochen durchgeführt werden.
Regel 47 Lassen sich mehrere Sekundgänge feststellen, so sind diejenigen unter ihnen, deren einzelne Punkte auf die wichtigsten Töne der Melodien fallen oder auf den Haupttaktzeiten stehen, als die wertvolleren anzusehen.
Regel 48 Meist wird ein Sekundgang aus der Reihe der oberen melodischen Spitzentöne gebildet werden können, ein zweiter wird die Reihe der tiefsten Melodietöne umfassen. Zwischen beiden können noch andere Sekundgänge verlaufen oder in die Hauptgänge übergehen.
Regel 49 Der Abstand zwischen den Tönen eines Sekundganges kann beliebig groß sein. Hier kann der Gang aus drei aufeinander­folgenden Tönen gebildet sein, dort können zwischen seiner Töne mehrere Takte liegen. Eine längere Folge gleichmäßiger Abstände nimmt der Melodie alle Spannung, zu viele unmittelbar aufeinanderfolgende Sekundschritte wirken als Tonleiter, nicht als Sekundgang.

Im Sekundgang ist keineswegs ein Universalmittel zu erblicken, dessen Vorhandensein die Güte eine Melodie gewährleistet; auch kann nicht immer mit unfehlbarer Sicherheit durch seine Einfügung ein unbefriedigender Melodiezug in einen zufriedenstellenden umgebogen werden (meist ist dies allerdings möglich). Es kommt sogar vor, dass der Sekundgang durch stärkere Herausarbeitung der harmonischen Felder nur in kleinsten Bruchstücken auftritt und so unbemerkt bleibt. Auch bei sequenzreicher Melodieanlage ist oft kein Sekundgang festzustellen; der Zusammenhang wird hier durch andere Mittel – eben durch die sequenzhafte Wiederholung von Tongruppen – ge­währleistet. Ist der Sekundgang aber in einer Melodie deutlich vorhanden, wird außerdem die Entwicklung durch übermäßigen Gebrauch von wiederkehrender Töne nicht allzu sehr gehemmt, so hat man mindestens die Gewähr eines zielsicheren und unbeirrten Fortschreitens der betreffenden Melodie. Der Sekundgang ist demnach ausschließlich als das Kontrollmittel für den rein melodischen Vorwärtsdrang einer Tonfolge anzusehen. Über die sonstigen Eigenheiten einer Melodie, zumal über die harmonischen, vermag er nichts auszusagen.


Fehlerhinweise, Kommentare und Anregungen sind mir herzlich willkommen.

Letzte Aktualisierung: 2012-08-15