Siebente Übung Tonale Zusammenschlüsse | ||||||||||
Die letzten vier Übungen zielten hauptsächlich auf die Erkenntnis der Tätigkeit melodischer Kraft. Diese Übung widmet sich wieder mehr den harmonischen Geschehnissen. Durch sie soll eine noch nicht erwähnte Eigenschaft der Töne nutzbar werden, die einiger Erläuterungen bedarf. | ||||||||||
Arbeitsmaterial | ||||||||||
Intervalle als wesentliche Elemente des Musikgeschehens, haben ihre eigene Gestalt, ihre besonderen Eigenschaften und wollen auf die ihr zukommende Weise verarbeitet werden. Ihr unverwechselbares Eigenwesen verbindet sie unabhängig von Tonstufe durch nichts als ihre äußere Ähnlichkeit. Ein anderes Ordnungsprinzip, das des gemeinsamen Grundtones, zwingt die verschiedensten Intervalle auf eine gemeinsame Ebene. Diese verwandtschaftliche Kraft, die den Lauf der Klänge regelt ohne selbst jemals unmittelbar gehört zu werden, ist weder der melodischen noch der harmonischen Kraft wesensgleich, die in den Tonverbindungen wirkt, noch ist sie als eine Summierung aller durch diese Kräfte hervorgerufenen Spannungen anzusehen obwohl sie häufig zumal mit der harmonischen Kraft verwechselt worden ist und in der Tat auch leicht verwechselt werden kann. Über allen anderen Kräften herrscht die Kraft des gemeinsamen Grundtons, in allen Tonabläufen spürt man die Wirkung des geheimnisvollen, verborgenen Ferments der tonalen Bindung. Die tonale Bindung unterscheidet Verwandtschaftsgrade der Töne zueinander. Im Zentrum steht der Stammton, der die Tonalität bestimmt. Es ist das tonale Zentrum (T). Von diesem Stammton lässt sich eine Reihenfolge der Wertigkeit bilden, die beispielsweise vom Stammton C lautet: C · G · F · A · E · Eb · Ab · D · Bb · Db · B · F# / Gb. Das in der Modellreihe notierte G stellt im Verhältnis zum C weder einen Quint-Klang noch einen Quint-Sprung dar, sondern ist ausschließlich der Ausdruck der Verwandtschaftsbeziehung, des Anziehungsgrades, in dem ein Ton im Quintabstand zu einem tonalen Hauptton steht. Alle Töne dieser Reihe, in welcher Weise sie auch aufeinander folgen mögen, werden vom Ohr immer wieder auf den beherrschenden Hauptton C bezogen, sofern man ihm Gelegenheit gibt, seine Bindekraft auszuüben. Die Reihe der Tonverwandtschaften ist ebenso wie die Einteilung der Intervalle in Gruppen eine Wertreihe. Je näher eines ihrer Glieder dem Stammtone liegt, umso näher ist es mit ihm verwandt, umso stärker tritt bei seinem Auftreten die bindende Kraft dieser Verwandtschaft im ausgeführten tönereichen Satz zutage. Der erste Verwandtschaftsgrad ist kraft seiner Bindung die stärkste Stütze und Bestätigung des Stammtones, er besitzt aber auch soviel Eigenkraft, dass er am leichtesten von allen Verwandten sich selbstständig machen kann und eine neue Tonalität begründen kann, wenn man ihn nicht zur Unterstützung des Stammtones zwingt. Wegen seiner hervorragenden Stellung heisst dieser erste Verwandte Dominante (D). Der nächste Verwandte steht schon in weniger starker Bindung zum T, immerhin ist er auch noch eine so kräftige Stütze der Tonfamilie, dass er den Namen Subdominante (S) führt. Wegen der über allem Harmoniegeschehen waltenden Bindekraft, wegen ihrer grundlegenden Wichtigkeit für die Klangabläufe eines Tonsatzes erhält die Reihe absteigender Verwandtschaftswerte von nun an die Bezeichnung Reihe 1. Die ihr untergeordnete, von ihr geregelte und befohlene Reihe absteigender Zusammenklangswerte, die bereits unter der Bezeichnung Intervallgruppe A und B bekannt ist, soll von nun an, um die Abhängigkeit von der Werteordnung der Verwandtschaftsreihe deutlich zu machen den Namen Reihe 2 führen. | ||||||||||
Arbeitsvorschriften | ||||||||||
Es gilt nunmehr, in den zweistimmigen Sätzen nach den tonalen Bindungen zu suchen. Dabei geben die Grundtöne der Einzelklänge die tonalen Beziehung der Klangabläufe zu erkennen, da sie über Art und Wert des Klangs die aufschlussreichste Auskunft geben. Zieht man aus einem der früheren zweistimmigen Beispiele die Grundtöne heraus, erhält man eine Tonfolge, die sich aus den Grundtönen der Klänge bildet. Diese Stimme heisst Stufengang. Er ist als das Urgeschehen eines klingenden Satzes anzusehen. Er zeigt deutlich, dass auch hinter den harmonischen Vorgängen immer die Regelung durch melodische Erscheinungen steht, dass also alles klangliche Geschehen zutiefst in melodischer Bewegung verankert ist.
Der Stufengang läuft nicht mit dem unabänderlichen Willen zu unnachgiebiger Linienführung ab, den die Melodievorlage besitzt. Er drückt in weit stärkerem Maße als diese die Bindung an ein T aus und benützt hierfür Mittel, die den Lauf einer Vorlage stark hemmen würden, die aber durch eben diese bremsende Wirkung sich sehr gut eignen, bestimmte Töne (Zentrum, Dominanten) festzulegen; unter Umständen Sequenzen und Dreiklangsbrechungen; längere Folgen von Sekundschritten (dabei jedoch einstweilen keine Chromatik); längeres Beibehalten der Bewegungsrichtung. Brechungen von Tritonusakkorden sind bis jetzt auf die noch zu erwähnende Ausnahme zu vermeiden. Der Stufengang ist demnach als eine Vorstufe melodischen Lebens noch nicht zu selbständiger Linienentwicklung gelangtes Urgebilde melodischer Bewegung anzusehen. Andererseits besitzt er aber eine Beweglichkeit, die den Melodievorlagen nicht zusteht; er ist in seinem rhythmischen Verlaufe gänzlich von den über ihm sich abspielenden Klänge abhängig und bedient sich daher ebenso wie diese aller Notenwerte. Ein selbständiges melodisches Leben wird man trotz allem vom Stufengang nicht verlangen wollen, denn er soll ja weder durch Schönheit und Ausdruckskraft, noch durch interessante Linienführung wirken. Er dient ausschließlich zur Überprüfung des Wertes harmonischer Abläufe; ist er ein übersichtliches, gut gebautes und folgerichtig entwickeltes Liniengebilde, so müssen die Harmoniefolgen ebenfalls überzeugen. Der Stufengang ist die praktische Auswirkung der Verwandtschaftsgesetze, wie sie in der Reihe 1 niedergelegt sind. Soll ein harmonischer Ablauf verständlich sein, so muss sich sein Stufengang unter übersichtlicher Benutzung der Verwandtschaftsverhältnisse auf einen tonalen Stammton beziehen.
Bei alleiniger Stützung durch die S besteht die Gefahr, dass der sie vertretende Stufengangston die Oberhand gewinnt und sich selbst zum T aufschwingt, indem er sich dem ursprünglichen T als seiner stützende D bedient.
Deshalb soll in den zweistimmigen Übungen der Anfangston des Stufenganges stets derselbe sein wie der Schlusston. Der Stufengang ist so einzurichten, dass diese beiden Töne das T bilden.
Durch solche, korrekt angewandte TT-Schritte, wird das T außerordentlich deutlich festgelegt; sie sind wegen der Entschiedenheit, mit der sie das T festlegen, hauptsächlich zur Herstellung der Schlüsse geeignet; wir nennen sie Kadenzen. Eine Kadenz besteht im Stufengang aus mindestens drei Tönen, wovon der letzte stets das T ist. Die anderen beiden streben auf diesen Schlusston zu. Für die Schlusswirkung einer Kadenz ist das Verwandtschaftsverhältnis ihrer drei Stufengangtöne von größter Wichtigkeit. Geht dem T seine D voraus und steht vor dieser die S des T oder auch ihre eigene D, so erzielt man die stärkstmögliche Kadenz. Je mehr sich der vorletzte Kadenzton verwandtschaftlich vom T entfernt, umso schwächer wird der allerletzte Schlussfall; die Kraft des Kadenzbeginns hingegen ist aufs engste von der Verwandtschaftsbeziehung abhängig, die den drittletzten Stufengangston mit den beiden anderen verbindet. Durch das Ausspielen dieser Verwandtschaftswerte zwischen den drei Kadenztönen lassen sich die unterschiedlichsten Schlussformeln aufbauen. Die Kadenz ist ein Satzmittel, in welchem die harmonische Kraft sich mit der rhythmisch-formalen aufs innigste verbindet. Diese beiden Kräfte verfolgen rücksichtslos ihr Ziel, indem sie alle anderen Kräfte und Bestrebungen in den Hintergrund drängen. Es ist zumal die melodische Kraft, die ihnen weichen muss. Darum kann in den Kadenzen auf die Forderungen sorgfältigster Stimmführung nicht immer Rücksicht genommen werden. Man gestattet in den Stufengängen der dreitönigen Kadenzen: Brechungen von Tritonusakkorden; verminderte und übermäßige Schritte zum Erreichen des ersten Tones von drei Kadenztönen, ebenso verminderte und übermäßige Schritte zwischen dem ersten und zweiten Kadenzton, Voraussetzung bleibt natürlich immer, dass der darüberliegende zweistimmige Satz seinen Regeln getreu bleibt.
Es wird jetzt verständlich, inwieweit es vorteilhaft ist, sich in mehrdeutigen Fällen, statt allzu viele selbständige Intervalle anzunehmen, sich der erleichternden und abkürzenden Rechnung mit melodischer Floskeln zu bedienen. Der Stufengang erhält damit einen vereinfachten rhythmischen Verlauf, wodurch wiederum seine harmonischen Verhältnisse einfacher und übersichtlicher werden. |
Fehlerhinweise, Kommentare und Anregungen sind mir herzlich willkommen.
Letzte Aktualisierung: 2012-08-15