Achte Übung – Tonalität von Melodien

Mit dem Wissen über das Wesen des Stufenganges und dem Umgang mit ihm, lässt sich ergründen, wie die in den Melodien einge­schlossenen harmonischen Gruppierungen ihre Aufeinanderfolge regeln; hierzu dient die Stufengangberechnung und von den melo­dischen und harmonischen Vorgängen im zweistimmigen Satz wird, soweit er sich satztechnisch erschließen lässt, der letzte Schleier weggezogen.

Arbeitsmaterial

Als Untersuchungsmuster dienen wieder die früher angefertigten Melodien. Melodievorlagen werden in dieser Übung nicht verwendet.

Arbeitsvorschriften

Es wurde früher gezeigt, dass die aufeinanderfolgenden Töne eines nacheinander statt zusammenklingenden Intervalles denselben har­monischen Wert haben wie die betreffenden Zusammenklänge. Aus ihnen muss sich also, wenn es sich um die auseinandergezogene Intervalle der Gruppe A handelt, ebenso ein Stufengang errechnen lassen, und dieser sollte ebenso wie der aus den Zusammenklängen gezogene zeigen können, ob die zwischen den Intervalltönen der Melodie aufgespannten Harmoniewerte sinnvoll einander folgen. Die Vorbedingung zum Erstellen eines solchen Stufenganges liegen in den harmonischen Zellen der Melodien verborgen. Werden die Grundtöne ermittelt und nebeneinandergestellt, zeigt sich, ob die so gewonnene Tonreihe den Forderungen nach logischer Linienführung erfüllt und als Zeichen für die harmonische Logik im melodischen Ablaufe gelten kann. Die harmonischen Felder sind Drei- und Mehr­klänge, deren Töne nacheinander statt miteinander erklingen, deren Grundtöne sich einfach ermitteln lassen.

Regel 63 In Drei- und Mehrklängen ist der Grundton des in ihnen enthaltenen besten Intervalls der Grundton des Gesamtklanges.

Der Wert der Intervalle wird nach der Ordnung der Reihe 2 bestimmt, und zur Bestimmung wird jedes der im Klang enthaltenen Intervalle herangezogen, nicht etwa nur die Beziehung der einzelnen Akkordtöne zum Grundton oder zum Basiston. Im Durdreiklang sind demnach enthalten eine P5, M3 und eine b3. Sein bestes Intervall nach den Werten der Reihe 2 ist die P5, ihr unterer Ton ist somit Grundton des Dreiklanges.

Regel 64 Enthalten die Dreiklänge des Stufenganges den TT, so lässt sich kein Grundton ermitteln und deshalb sind sie noch vorerst verboten.

Die Grundtonlosigkeit dieser Akkorde lässt sich auf die Eigenart des TT zurückführen. Bei allen Intervallen der beiden Gruppen A und B der Reihe 2 können Grundtöne benannt werden, und erst das Vorhandensein dieser Intervallbestandteile ermöglicht es, die Zusammenklänge und Tonschritte nach ihrem Werte und ihrer Eigenart einzusetzen. Beim TT ist kein Grundton zu entdecken; entweder man betrachtet ihn als neutral, als grundtonlos, oder man räumt beiden Tönen das Recht ein, die Grundtonfunktion zu vertreten. Alle anderen Intervalle lassen sich umkehren zu neuen Intervallen mit gegensätzlich gelagerten Grundton. Bei der Umkehrung des TT entsteht wiederum ein TT. Man mag mit diesem Intervall irgend etwas beginnen, es bleibt immer zweideutig, unentschieden, schillernd. Erst wenn er sich an andere Intervalle schrittweise anlehnt, wenn er als N zu einem Quint- oder Quart-Schritt auftritt, gewinnt er an Entschiedenheit. Da die oben genannten Akkorde als Hauptbestandteil den TT enthalten, ist es nicht verwunderlich, dass auch sie sich von den übrigen, »normalen« Akkorde absondern. Mehr über die Eigenschaften des Tritonus folgt in den Übungen für den dreistimmigen Satz.

Die Behandlung der in den Melodien zerlegt auftretenden Mehrklänge führt oftmals zu Problemen. Schon die kleinsten von diesen Aus­einanderlegungen, die harmonischen Zellen, lassen sich oft nicht genau und zweifelsfrei voneinander abgrenzen. Noch weniger können wir daher von den aus Zellen bestehenden größeren Mehrklangsausbreitungen, den harmonischen Feldern, verlangen, dass sie sich immer einer scharftrennenden Einteilung unterwerfen. Man kommt jedoch fast durchweg mit der Zusammenfassung in Dreiklängen aus. Mehr­klänge lassen sich oftmals in mehrere Dreiklänge zerlegen, und wenn eine Tongruppe sich der harmonischen Zusammenfassung gar zu sehr sperrt, bleibt immer noch die Zerlegung in Zellen übrig, wodurch sie sicher zu erfassen ist.

Regel 65 Die aus den harmonischen Feldern – und wenn nötig, Zellen – gezogenen Stufengänge müssen eine sinnvolle melodische Linie ergeben. Zum Unterschied vom Stufengang der Zusammenklänge nennt man sie Melodiestufengang.

Es kann vorkommen, dass der einzige Inhalt eines Melodieabschnittes ein Sekundschritt ist, oder dass durch die rhythmisch günstige Stellung eines solchen Schrittes ein deutliches Wahrnehmen harmonischer Zellen oder Felder sehr erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wird. Der Sekundgang ist in solchen Fällen so stark und eindeutig, dass der Stufengang nicht gegen ihn aufkommen kann. Hier übernimmt man einfach die betreffenden Töne des Sekundganges in den Stufengang.

Die im Melodiestufengang ausgedrückten harmonischen Inhalte der Zellen und Felder sind zunächst völlig unabhängig von den harmo­nischen, die sich aus dem Hinzufügen einer oder mehrerer Stimmen zu einer Melodie ergeben. Die Wege der melodischen Logik können mit denjenigen der Zusammenklänge wohl zusammenlaufen; oft tun sie es aber nicht. So dürfen wir also beim Aufstellen des Melodiestufengangs nicht daran denken was unter oder über der Melodie erklingen könnte. Wie die Melodie mit den Zusammenklängen zu vermählen ist, wie sich Melodiestufengang und Stufengang zueinander verhalten, wird in der letzten Übung behandelt. Die vorläufige harmonische Unabhängigkeit einer einzelnen Melodielinie von den zu ihr tretenden Zusammenklängen ist natürlich auch ausschlaggebend für die melodische Bedeutung ihrer einzelnen Töne. Was in bezug auf eine zweite Stimme eine Melodieformel ist, kann in der abgesondert betrachteten Melodie Akkordbestandteil eines harmonischen Feldes sein.


Fehlerhinweise, Kommentare und Anregungen sind mir herzlich willkommen.

Letzte Aktualisierung: 2012-08-15