Abschnitt 1 – Der Werkstoff und seine Eigenschaften
1 – Der Werkstoff

Das Material für die satztechnische Arbeit eines Komponisten sind die zwölf Töne der chromatischen Tonleiter, die sich jedoch von der chromatischen Tonleiter gleichschwebender Temperatur grundlegend unterscheidet. Die Leiter wird abgeleitet von einem Stammton und den Intervallverhältnissen der Obertonreihe unter Verwendung der ersten sechs Obertöne. Jeder Leiterton kann seine eigene Tonleiter bil­den, dessen Stammton er verkörpert.

In erster Ordnung lassen sich ableiten [1]: P1 (¹⁄₁), P8 (²⁄₁), P5 (³⁄₂), P4 (⁴⁄₃), M6 (⁵⁄₃), M3 (⁵⁄₄), b3 (⁶⁄₅) und b6 (⁸⁄₅). Als Töne zweiter Ordnung er­geben sich: M2 (⁹⁄₈), b7 (¹⁶⁄₉), b2 (¹⁶⁄₁₅), M7 (¹⁵⁄₈). Die Ab­leitung dritter Ordnung liefert schließlich: #4 (⁴⁵⁄₃₂) und b5 (⁶⁴⁄₄₅).

Das Einbeziehen der Schwingungsverhältnisse der natürlichen Obertonreihe ermöglicht – im Gegensatz zur künstlichen Einteilung der Ok­tave in zwölf gleichgroße Teile – die Darstellung der Wertigkeit der Klänge in bezug auf ihren tonalen Ursprung und versucht die Technik des Intonierens nachzuempfinden, welche Sänger und Spieler von Streich- und Blasinstrumenten anwenden, um die Klänge möglichst natur­rein darzubringen.

2 – Abfolge der Tonverwandtschaften

Die oben angedeutete Verfahrensweise zur Bildung der einzelnen Leitertöne hat neben der Bestimmung der Intervall­verhältnisse einen anderen nicht minder wichtigen Nebeneffekt. Auch die Reihenfolge, in welcher die Leitertöne vom Stammton abgeleitet werden, ist von großer Bedeutung: Sie beschreibt das Verwandtschaftsverhältnis, wird im folgenden als Reihe 1 bezeichnet und lautet wie folgt:

P1 · P8   ||   P5 · P4 · M6 · M3 · b3 · b6   |   M2 · b7 · b2 · M7   ||   #4 / b5

Zu einem Ausgangston steht der um eine Oktave höher klingende Ton in einem so engen Verwandtschaftsverhältnis, dass zwischen beiden kaum ein Unterschied festzustellen ist. Der nur um eine Quint höhere Ton ist nach der Oktave der nächste Verwandte und hiernach folgen Töne, die sich vom Grundton immer weiter entfernen. Mit zunehmender Entfernung vom Ausgangston lockert sich dabei auch die Ver­wandtschaftsbeziehung, bis die beim äußersten Ton, der um die übermäßige Quart bzw. verminderte Quint entfernt steht, kaum noch spürbar ist.

Das Wertmaß der Verwandtschaften beschreibt in allen Tonzusammenstellungen das Verwandtschaftsverhältnis des Einzeltones zum Stammton und ist damit Maß und Regel für das Verbinden von Klängen, die Ordnung harmonischer Folgen und bestimmt dadurch den klanglichen Ablauf einer Komposition.

3 – Eigenschaften der Intervalle

Bisher wurden nur die Eigenschaften eines Einzeltones betrachtet. Der einzelne Ton ist aber noch keine Musik; sie entsteht erst mit dem Zusammenwirken mindestens zweier Töne. Im Schreiten von einem Ton zum anderen, in der Über­brückung eines Zwischenraumes erwächst die melodische Spannung, in der gleichzeitigen Gegeneinanderstellung der Tonhöhen die Harmonie. Also ist das Intervall als der eigent­liche musikalische Baustein anzusehen. Wie die Tonverwandtschaften in unterschiedliche Werte abgestuft erscheinen, so bieten sich die Intervalle in einer natürlichen Wertfolge dar, die im folgenden Reihe 2 genannt werden wird.

P1 · P8   ||   P5 · P4 · M3 · b6 · b3 · M6   |   M2 · b7 · b2 · M7   ||   #4 / b5

Reihe 1 wurde aus der Obertonreihe errechnet, zur Bildung der Reihe 2 werden die Kombinationstöne erster und zweiter Ordnung heran­gezogen [2]. Die Intervalle ordnen sich zu Paarungen abgestufter Wertigkeit: P5 | P4, M3 | b6, b3 | M6, M2 | b7, sowie b2 | M7 weisen den gleichen Bestand an Kombinationstönen auf. Mit der Wertung von Lage und Stellung dieser ergibt sich, dass die Einzeltöne eines Intervalls keineswegs gleichwertig sind. Ein Intervall zerfällt in einen Grundton und in seinen Ergänzungston. Diese Eigenschaft ermöglicht die Festlegung des klanglich wertvolleren Intervalls innerhalb eines Paares. Bei den erstgenannten Intervallen (P5, M3, b3, M2 und b2) liegt der Grundton des Intervalls unten; bei den zweitgenannten (P4, b6, M6, b7 und M7) liegt dieser oben [3]. Intervalle mit untenliegenden Grund­ton sind klanglich stabiler und daher auch wertvoller.

Das Paar P1 | P8 nimmt eine Sonderstellung unter den Intervallen ein, weil unter einem Intervall hier nur solche Klänge verstanden werden, welche aus zwei verschiedenen Tönen bestehen. P1 und P8 zählen nicht zu den Intervallen, da sie lediglich Tonverdopplungen darstellen. Auch können die Kombinationstöne nicht wahrgenommen und somit nicht zu einer Bewertung herangezogen werden. Aus diesem Grund haben diese Intervalle keinen Grundton.

Wie das Paar P1 | P8 weist das Paar #4 | b5, welches fortan unter dem Begriff Tritonus (TT) zusammengefasst wird, eine Eigenart auf, welche ihn von den anderen Intervallen deutlich abgrenzt. Der TT hat ebenfalls keinen Grundton und enthält stets eine dominantische Wirkung. Für die Festlegung, welcher der Töne der wichtigere von beiden ist, muss seine Umgebung einbezogen werden. Aus dem Klang, der ihm nachfolgt und in den er sich auflöst, ergibt sich, zu welchem Stammton einer Reihe der TT gehört:

Derjenige Ton des TT, welcher den Grundton des Auflösungsintervalls mit dem melodisch kleinsten Schritt erreicht, wird als stellvertretender Grundton angesehen.

Die in Reihe 2 niedergelegte Wertfolge der Zusammenklänge erweist sich auch als Maßstab für die Wertung der konsonanten oder dissonanten Bedeutung der Intervalle. Zwischen der P5 als dem vollkommensten Intervall und der M7 als dem unvollkommensten, ist eine Reihe von Intervallpaaren angeordnet, deren Wohlklang in dem Maße abnimmt, wie sie sich von der P5 in Richtung der M7 entfernen. Der TT kann weder in die Region des Wohlklangs eingeordnet noch als Missklang angesehen werden; er steht als das eigenartigste Intervall auch hier wieder abseits.

4 – Harmonischer und melodischer Wert der Intervalle

Jede klangliche Bewegung kommt, von der Tätigkeit des Rhythmus abgesehen, durch die Zusammenarbeit harmonischer und melodischer Kräfte zustande. Harmonik und Melodik sind gegensätzliche Prinzipien. Keines von beiden ist selbstständig genug, um allein bestehen zu können; es ist zu seiner Entfaltung auf die Mitwirkung des anderen angewiesen. Die Melodik bringt die trägen harmonischen Massen in Fluss, jede Verbindung von Harmonien kann nur auf melodischen Wege, mit Durchschreiten der Intervalle erzielt werden. Die Harmonik wiederum bindet und gliedert die auseinanderstrebenden melodischen Kräfte. Jedes Intervall als musikalischer Grundbaustein besitzt sowohl harmonische als auch melodische Eigenschaften.

Die harmonische Kraft ist in den links liegenden Intervallen der Reihe 2 am stärksten wirksam und verliert sich nach rechts; die Melodik wirkt in umgekehrter Richtung. P1 und P8 bleiben wieder außen vor, weil ihre Tonwiederholung keine Entfaltung weder der harmonischen noch der melodischen Kraft zulässt. Das stärkste und eindeutige Intervall ist demnach die P5, das schönste jedoch die M3 wegen ihrer, in den Kombinationstönen begründeten, Akkordwirkung. Von hier an lässt die harmonische Kraft nach, um bei b2 und M7 fast gänzlich zu ent­schwinden. Diese beiden Intervalle sind als Leittöne nahezu ausschließlich melodisch tätig. Erst durch das gleichzeitige Zusammenklingen mit anderen Intervallen kann ihnen eine stärkere harmonische Bedeutung eingepflanzt werden. Dem melodisch stärksten Intervall der M7 folgt von rechts nach links der einfachste melodische Schritt der b2 und nach der b7 das schönste melodische Intervall: die M2. Weiterhin ist festzuhalten, dass die Intervalle mit oben liegenden Grundton ihren, durch die bessere Lage ihrer Kombinationstöne begünstigten, Partnern an harmonischer Stabilität unterlegen sind. Sie haben ein größeres Betreben sich melodisch zu betätigen. Im Gegensatz dazu binden die stärkeren Intervalle an Stellen, in denen sie melodisch tätig werden, ihre Töne also nacheinander erscheinen, die Linien zu harmonischen Gruppen zusammen.

Der TT hat – wie die P8, aber aus völlig anderen Gründen – weder bestimmte harmonische noch melodische Bedeutung. Soll seine Stellung entschieden werden, bedarf es immer der Mithilfe eines dritten Tones. Entweder klingt dieser mit ihnen zusammen, dann ist der TT dem Zusammenklang harmonisch untergeordnet. Oder der TT ist Teil einer Gruppe aufeinanderfolgender Töne; so ordnet er sich als Nebenton dem harmonisch stärkeren Intervall melodisch unter.

5 – Klangbestimmung

Die in Reihe 2 hinterlegte Wertabfolge der Zusammenklänge wird auch für die Bewertung von Klängen herangezogen, die mehr als zwei Töne umfassen. Alle denkbaren Zusammenklänge von Einzeltönen lassen sich zunächst in zwei Gruppen aufteilen: Klänge, die keinen TT (Gruppe A) und Klänge, die einen oder mehrere TT (Gruppe B) enthalten [4].

Für die Verfeinerung der Einteilung wird eine Bewertung aller den Klang bestimmenden Intervallklassen vorgenommen. Dies bedeutet, dass nicht nur die Zusammenklänge mit einem einzelnen, beispielsweise den Basiston gewertet werden; für die Aufgliederung werden alle im Klang enthaltenen Intervalle herangezogen. Die Intervalle werden zu diesem Zweck in drei Kategorien untergliedert:

  • Konsonanzen:
  • P5, P4, M3, b6, b3, M6 und deren Oktaverweiterungen
  • Weiche Dissonanzen:
  • M2, b7 und deren Oktaverweiterungen
  • Harte Dissonanzen:
  • b2, M7 und deren Oktaverweiterungen

Die Klänge werden so in vier Gruppen unterteilt:

  • Ein Klang der Gruppe 1 enthält ausschließlich Konsonanzen.
  • Ein Klang der Gruppe 2 enthält zusätzlich weiche Dissonanzen.
  • Ein Klang der Gruppe 3 enthält zusätzlich harte Dissonanzen.
  • Ein Klang der Gruppe 4 enthält ausschließlich Dissonanzen.

Der dritte Faktor für die Klangbewertung berücksichtigt den Klanggrundton und seine Lage im Klang. Die Klänge setzen sich aus Intervallen zusammen, und da in Intervallen ein Grundton den Ergänzungston beherrscht, muss sich das Bestreben der Intervallgrundtöne, andere Töne unter ihre Herrschaft zu zwingen, sich auch im Klang durchsetzen. Es gilt folgende Regel:

Grundton eines Klanges ist derjenige Ton, der Grundton des nach Reihe 2 besten Intervalls ist. Ist dieses Intervall mehrfach im Klang vertreten, so wird der Intervallgrundton des tiefstliegenden Intervalls als Grundton angesehen.

Damit lassen sich drei Gruppen für die Bewertung des Klanggrundtones ableiten:

  • Bei einem Klang der Gruppe a liegt der Klanggrundton unten.
  • Bei einem Klang der Gruppe b liegt der Klanggrundton mittig.
  • Bei einem Klang der Gruppe c liegt der Klanggrundton unten.

Stärke des Klanggrundton…

Für die Bewertung der tritonusbehafteten Klänge der Gruppe B tritt ein zusätzliches Gliederungsmerkmal hinzu: die Lage des Führungs­tones. Dieser wird folgendermaßen bestimmt:

Führungston eines TT ist derjenige Ton, der mit dem Klanggrundton das wertvollste Intervall bildet. Ist hierbei der Klanggrundton selbst Bestandteil des Tritonus, so wird der andere, zum Tritonus gehörende Ton als Führungston angesehen.

Es gibt noch eine kleine Zahl von Klängen, welche sich der Einteilung nach dem oben Beschriebenen widersetzen, weil sie – wie der TT als Intervall – keinen Grundton haben. Sie werden in zwei Sondergruppen zusammengefasst. Die Gruppe C wird gebildet vom übermäßigen Dreiklang und der aus zwei übereinanderliegenden Quarten. Die Gruppe D enthält den verminderten Dreiklang mit seinen beiden Um­kehrungen und den verminderten Septakkord.

Tafeln & Tabellen
[1] Die Erläuterung des Verfahrens sprengt den Rahmen einer Zusammenfassung. Es wird auf den Diskurs »Tonleiterbildung« verwiesen.
[2] Auch diese Verfahrensweise kann in einer Zusammenfassung nicht umfassend dargelegt werden. Die ausführliche Beschreibung ist dem Diskurs »Kombinationstöne« zu entnehmen.
[3] Die Festlegung der Sekunden als diejenigen Intervalle mit untenliegenden Grundton folgt nicht der Auffassung Hindemiths. Bei ihm haben die Septimen ihren Intervallgrundton unten.
[4] Die nachfolgend dargestellte Methodik der Klangbestimmung weicht in einigen Teilen zum Teil erheblich von der Hindemiths ab. Es wird versucht, die ausgeführte Systematik für den gesamten Klangvorrat fortzuführen und sinnvoll zu ergänzen.

Fehlerhinweise, Kommentare und Anregungen sind mir herzlich willkommen.

Letzte Aktualisierung: 2012-08-15