Erste Übung Einstimmige Melodien | ||||||||||
In dieser Übung sollen wenige Töne zu einem Liniengebilde zusammengestellt werden, in denen die melodische Kraft mit geringstmöglicher Beigabe rhythmischen und harmonischen Zutuns hervortritt. Sie sollen durch ihre anspruchslose und fast jedem Ausdruck mangelnder Gestalt das Wirken dieser Kraft offenbaren und in ihrer Genügsamkeit den nachfolgenden Übungen als Vorlage dienen. | ||||||||||
Arbeitsmaterial | ||||||||||
Das Arbeitsmaterial sind alle zwölf Halbtöne der chromatischen Tonleiter und deren Transposition im Bereiche der menschlichen Stimmen in ganze Noten ohne Taktangabe und Taktstriche. | ||||||||||
Arbeitsvorgang | ||||||||||
Eine Melodie besteht, soweit die rein melodische Tätigkeit der Intervallfortschreitungen ohne ihre rhythmischen und harmonischen Inhalte in Frage kommt, aus Tonschritten und Sprüngen. Melodische Stärke der Linienzüge ist überall dort zu finden, wo Schritte und Sprünge in weiser Ordnung abwechselnd ihre spannungsreiche Eigenart geltend machen und sich zur formalen, klanglichen und inhaltlichen Gesamtwirkung vereinigen. Die Beachtung der folgenden Vorschriften wird zu diesem Ziele führen.
Die Beschränkung im Höhenumfang der Aufgaben verhindert das Anbringen weiter Melodiebögen, die als Ausdrucksmittel großen Stils den ganz auf Satzreinheit gestellten, mit einem Mindestmaß von Ausdruck zufriedenen Charakter der Aufgaben zerstören würde.
Weniger als sieben Töne dürften kaum das Empfinden melodischer Entwicklung aufkommen lassen, bei der doppelten Anzahl wird sich durch das oft nötige Zurückkommen auf einen schon vorher gebrauchten Ton eine gewisse Langeweile einstellen.
Das abschließende Zurückkehren an den Ausgangspunkt bürgt für formale und tonale Rundung und Geschlossenheit.
Diese Vorschrift verhütet einen zu starken Auftrieb oder Abfall der Tonlinie.
Erlaubt sind b2-, M2-, b3-, M3-, P5-, sowie b2+, M2+ und P4+. Alle anderen Fortschreitungen beeinträchtigen die Schlusswirkung. | ||||||||||
Unsere Melodien sollen im Ebenmaße steten ruhigen Voranschreitungen ihre Bögen ziehen. Dazu gehört, dass ihnen jede Tongruppe ferngehalten wird, die sie in ihrem gemessenen Laufe aufhalten könnte. Gewinnt nämlich ein Ton oder eine Tongruppe durch Zeitwert, günstigen Platz oder durch engen Zusammenschluss mit anderen ein Übergewicht über seine Umgebung, so wird der Melodieablauf gestört. Auf solche Störungen beziehen sich die folgenden Vorschriften.
Erklingt ein Ton ohne Ablösung durch Zwischentöne nach seinem ersten Erscheinen sogleich noch einmal, so verstärkt sich seine Stellung den anderen Tönen gegenüber, er hemmt den Melodieverlauf. Auch die Wiederkehr nach einer Unterbrechung durch Zwischentöne legt den Melodieverlauf zu sehr auf diesen Ton fest.
Mehrere aufeinanderfolgende Melodietöne dürfen keine Tongruppe bilden, die als gebrochener Dreiklang oder sonst wahrnehmbarer drei- oder mehrstimmiger Akkord aufgefasst werden kann. Eine solche Tongruppe würde durch ihre Geschlossenheit die Aufmerksamkeit an sich reissen und so die umliegenden Töne entwerten. Die Akkordwirkung der gebrochenen Dreiklänge und Tritonusakkorde lässt sich durch eingeschobene Töne, die zu einem der Akkordtöne im Sekundverhältnis stehen, stark eindämmen, ganz ausschalten kann man sie allerdings nicht.
Auch die Sequenzen erzeugen zusammengehörende Tongruppen. Die kleinste alle Sequenzen, die Wiederholung einer nur zweitönigen Figur auf anderer Stufe, stört nicht, wenn sie nicht öfter als einmal wiederholt wird oder die Aufgabe in einen auffälligen Taktrhythmus gliedert. Diatonische Sequenzen Gespiegelte Sequenzen
Sext- und Septimsprünge erzeugen entweder Gruppen, indem die nachfolgenden Töne eine Art befriedigenden Zieles einer »Auflösung« empfunden werden und die Sprünge als untergeordnete Glieder einer geschlossenen Tonfolge erscheinen. Oder aber es bilden sich auf größere Entfernungen Akkordbrechungen, die zwar durch andere Töne unterbrochen sind, aber doch deutlich wahrnehmbar zusammengehören. Selbst ein harmloser Quintsprung kann einer sonst ausgeglichenen Melodie schon einen unangenehmen, stoßweisen Vorwärtsdrang einimpfen. Es empfiehlt sich daher, einen Sprung dadurch abzuschwächen, dass man unmittelbar nach ihm nicht mehr als einen Ton in der gleichen Richtung folgen lässt.
Zwei aufeinanderfolgende Sprünge bilden ebenfalls zusammengehörige Tongruppen. Stehen nämlich drei Töne so zueinander, so bilden sie entweder eine Akkordbrechung und verstoßen gegen die Regel 7 oder der ihnen nachfolgende Ton ergänzt die beiden ersten zu einem nicht zu überhörenden Akkord. Nach einem Quintsprung ist die Bewegungsrichtung zu ändern; spätestens jedoch nach einem weiteren Schritt in Sprungrichtung. | ||||||||||
Sie sind nicht gut, weil sie als größerer Ausschnitt einer Tonleiter zu geringe melodische Spannung haben (vgl. Regel 4).
Wird nach einer alterierte Fortschreitung der dritte Ton sprungweise erreicht, so ergeben sich Akkordgruppen, oder die Folge zerfällt in die Gruppen 1+2 oder 2+1: Es bildet sich ein leichtverständliches kräftiges Intervall, dem der übrigbleibende Ton als untergeordneter Nebenton dient. Dasselbe wird bei stufenweiser Einführung des auf den alterierten Schritt folgenden dritten Tones erreicht. Die zusammenbindende Kraft der alterierten Intervalle erstreckt sich nicht nur auf die Töne, welche unmittelbar an einer solchen Gruppe beteiligt sind. Insbesondere ist es der bemerkenswerteste unter ihnen, der TT, welcher seine Bindekraft auf längere Strecken ausübt. Er ist in Tonreihen, die in kleinen Schritten vorangehen, noch nach vier oder fünf Tönen spürbar.
Unter Chromatik werden Folgen von wenigstens drei Tönen verstanden, die sich im Halbtonabstand aneinanderreihen, also zwei kleine Sekundschritte [1]. Aber auch schon ein einziger Sekundschritt kann chromatisch wirken. Chromatische Führungen binden die Töne zu eng aneinander. Diese kleben zusammen und hemmen die freie Linienentfaltung, welche diese Aufgabe erfordert. Bei mehr als zwei Zwischentönen ist die Störungswirkung chromatischer Führungen fast immer erträglich. | ||||||||||
Tafeln & Tabellen | ||||||||||
[1] | Bei sorgfältiger Anwendung der Regel 12 ist diese Vorschrift entbehrlich, da sich bei chromatischen Führungen zwangsweise alterierte Fortschreitungen ergeben. |
Fehlerhinweise, Kommentare und Anregungen sind mir herzlich willkommen.
Letzte Aktualisierung: 2012-08-15