Erste Übung – Einstimmige Melodien

In dieser Übung sollen wenige Töne zu einem Liniengebilde zusammengestellt werden, in denen die melodische Kraft mit geringstmöglicher Beigabe rhythmischen und harmonischen Zutuns hervortritt. Sie sollen durch ihre anspruchslose und fast jedem Ausdruck mangelnder Ge­stalt das Wirken dieser Kraft offenbaren und in ihrer Genügsamkeit den nachfolgenden Übungen als Vorlage dienen.

Arbeitsmaterial

Das Arbeitsmaterial sind alle zwölf Halbtöne der chromatischen Tonleiter und deren Transposition im Bereiche der menschlichen Stimmen in ganze Noten ohne Taktangabe und Taktstriche.

Arbeitsvorgang

Eine Melodie besteht, soweit die rein melodische Tätigkeit der Intervallfortschreitungen ohne ihre rhythmischen und harmonischen Inhalte in Frage kommt, aus Tonschritten und Sprüngen. Melodische Stärke der Linienzüge ist überall dort zu finden, wo Schritte und Sprünge in weiser Ordnung abwechselnd ihre spannungsreiche Eigenart geltend machen und sich zur formalen, klanglichen und inhaltlichen Gesamt­wirkung vereinigen. Die Beachtung der folgenden Vorschriften wird zu diesem Ziele führen.

Regel 1 Der Höhenumfang der Vorlage beträgt ungefähr eine Oktave.

Die Beschränkung im Höhenumfang der Aufgaben verhindert das Anbringen weiter Melodiebögen, die als Ausdrucks­mittel großen Stils den ganz auf Satzreinheit gestellten, mit einem Mindestmaß von Ausdruck zufriedenen Charakter der Aufgaben zerstören würde.

Regel 2 Die Längenausdehnung erreicht mindestens sieben, höchstens 14 Töne.

Weniger als sieben Töne dürften kaum das Empfinden melodischer Entwicklung aufkommen lassen, bei der doppelten Anzahl wird sich durch das oft nötige Zurückkommen auf einen schon vorher gebrauchten Ton eine gewisse Langeweile einstellen.

Regel 3 Der Anfangs- und Endton ist gleich.

Das abschließende Zurückkehren an den Ausgangspunkt bürgt für formale und tonale Rundung und Geschlossenheit.

Regel 4 Die Bewegungsrichtung ist nach spätestens vier Tönen zu wechseln.

Diese Vorschrift verhütet einen zu starken Auftrieb oder Abfall der Tonlinie.

Regel 5 Es sind nur bestimmte Fortschreitungen in den Schlusston erlaubt.

Erlaubt sind b2-, M2-, b3-, M3-, P5-, sowie b2+, M2+ und P4+. Alle anderen Fortschreitungen beeinträchtigen die Schlusswirkung.

Unsere Melodien sollen im Ebenmaße steten ruhigen Voranschreitungen ihre Bögen ziehen. Dazu gehört, dass ihnen jede Tongruppe fern­gehalten wird, die sie in ihrem gemessenen Laufe aufhalten könnte. Gewinnt nämlich ein Ton oder eine Tongruppe durch Zeitwert, gün­stigen Platz oder durch engen Zusammenschluss mit anderen ein Übergewicht über seine Um­gebung, so wird der Melodieablauf gestört. Auf solche Störungen beziehen sich die folgenden Vorschriften.

Regel 6 Eine Tonwiederholung ist verboten. Auch die Gruppe Ton – Wechselton – Ton ist zu vermeiden.

Erklingt ein Ton ohne Ablösung durch Zwischentöne nach seinem ersten Erscheinen sogleich noch einmal, so verstärkt sich seine Stellung den anderen Tönen gegenüber, er hemmt den Melodieverlauf. Auch die Wiederkehr nach einer Unter­brechung durch Zwischentöne legt den Melodieverlauf zu sehr auf diesen Ton fest.

Regel 7 Akkordbrechungen sind zu vermeiden.

Mehrere aufeinanderfolgende Melodietöne dürfen keine Tongruppe bilden, die als gebrochener Dreiklang oder sonst wahrnehmbarer drei- oder mehrstimmiger Akkord aufgefasst werden kann. Eine solche Tongruppe würde durch ihre Geschlossenheit die Aufmerksamkeit an sich reissen und so die umliegenden Töne entwerten. Die Akkordwirkung der gebrochenen Dreiklänge und Tritonusakkorde lässt sich durch ein­geschobene Töne, die zu einem der Akkordtöne im Sekundverhältnis stehen, stark eindämmen, ganz ausschalten kann man sie allerdings nicht.

Regel 8 Sequenzen sind zu vermeiden.

Auch die Sequenzen erzeugen zusammengehörende Tongruppen. Die kleinste alle Sequenzen, die Wiederholung einer nur zweitönigen Figur auf anderer Stufe, stört nicht, wenn sie nicht öfter als einmal wiederholt wird oder die Aufgabe in einen auffälligen Taktrhythmus gliedert. Diatonische Sequenzen… Gespiegelte Sequenzen…

Regel 9 Größere Sprünge als die P5 dürfen nicht verwendet werden.

Sext- und Septimsprünge erzeugen entweder Gruppen, indem die nachfolgenden Töne eine Art befriedigenden Zieles einer »Auflösung« empfunden werden und die Sprünge als untergeordnete Glieder einer geschlossenen Tonfolge erscheinen. Oder aber es bilden sich auf größere Entfernungen Akkordbrechungen, die zwar durch andere Töne unterbrochen sind, aber doch deutlich wahrnehmbar zusammen­gehören. Selbst ein harmloser Quintsprung kann einer sonst ausgeglichenen Melodie schon einen unangenehmen, stoßweisen Vorwärts­drang einimpfen. Es empfiehlt sich daher, einen Sprung dadurch abzuschwächen, dass man unmittelbar nach ihm nicht mehr als einen Ton in der gleichen Richtung folgen lässt.

Regel 10 Zwei Sprünge in gleicher Richtung sind verboten.

Zwei aufeinanderfolgende Sprünge bilden ebenfalls zusammengehörige Tongruppen. Stehen nämlich drei Töne so zueinander, so bilden sie entweder eine Akkordbrechung und verstoßen gegen die Regel 7 oder der ihnen nachfolgende Ton ergänzt die beiden ersten zu einem nicht zu überhörenden Akkord.

Nach einem Quintsprung ist die Bewegungsrichtung zu ändern; spätestens jedoch nach einem weiteren Schritt in Sprungrichtung.

Regel 11 Mehr als zwei Sekundschritte in gleicher Richtung sind zu vermeiden.

Sie sind nicht gut, weil sie als größerer Ausschnitt einer Tonleiter zu geringe melodische Spannung haben (vgl. Regel 4).

Regel 12 Vermeide alterierte Fortschreitungen.

Wird nach einer alterierte Fortschreitung der dritte Ton sprungweise erreicht, so ergeben sich Akkordgruppen, oder die Folge zerfällt in die Gruppen 1+2 oder 2+1: Es bildet sich ein leichtverständliches kräftiges Intervall, dem der übrigbleibende Ton als untergeordneter Nebenton dient. Dasselbe wird bei stufenweiser Einführung des auf den alterierten Schritt folgenden dritten Tones erreicht. Die zusammenbindende Kraft der alterierten Intervalle erstreckt sich nicht nur auf die Töne, welche unmittelbar an einer solchen Gruppe beteiligt sind. Insbesondere ist es der bemerkenswerteste unter ihnen, der TT, welcher seine Bindekraft auf längere Strecken ausübt. Er ist in Tonreihen, die in kleinen Schritten vorangehen, noch nach vier oder fünf Tönen spürbar.

Regel 13 Chromatik ist unstatthaft.

Unter Chromatik werden Folgen von wenigstens drei Tönen verstanden, die sich im Halbtonabstand aneinanderreihen, also zwei kleine Sekundschritte [1]. Aber auch schon ein einziger Sekundschritt kann chromatisch wirken. Chromatische Führungen binden die Töne zu eng aneinander. Diese kleben zusammen und hemmen die freie Linienentfaltung, welche diese Aufgabe erfordert. Bei mehr als zwei Zwischen­tönen ist die Störungswirkung chromatischer Führungen fast immer erträglich.

Tafeln & Tabellen
[1] Bei sorgfältiger Anwendung der Regel 12 ist diese Vorschrift entbehrlich, da sich bei chromatischen Führungen zwangsweise alterierte Fortschreitungen ergeben.

Fehlerhinweise, Kommentare und Anregungen sind mir herzlich willkommen.

Letzte Aktualisierung: 2012-08-15