Sechste Übung – Erweiterte Melodik III

Den Kapiteln über die Melodieformeln ist noch einiges hinzuzufügen. Es ist noch nicht alles zur Sprache gekommen, was über die schon betroffenen Formeln zu sagen ist, und außerdem gibt es noch einige Formeln, die noch nicht beschrieben wurden.

Arbeitsmaterial

Grundlage dieser Übung sind wiederum die zweistimmigen Sätze Note gegen Note aus der zweiten Übung, die nochmals mit anderen Melodieformeln umspielt werden.

Arbeitsvorschriften

Zum ¯V ist noch nachzutragen: es ist von nun an nicht mehr nötig, den ¯V ausschließlich mit halben Notenwerten darzustellen. ¯VV können in allen Werten auftreten, vorausgesetzt, dass die in der Regel 38 und Regel 40 festgestellten Betonungsverhältnisse gewahrt bleiben. Der ¯V kann ferner statt nach unten auch nach oben aufgelöst werden; damit wird die Regel 39 hinfällig. Die folgenden Regeln betreffen neben den ¯V auch den N, da er als ¯V ohne Vorbereitung anzusehen ist.

Regel 50 Löst sich ein in der Oberstimme liegende ¯V nach oben auf, so kann das Auflösungsintervall eine P1, P8, P5, M3 oder b3 sein. In allen Fällen muss die Auflösung durch einen Sekundschritt erfolgen.
Regel 51 In lebhafteren Zeitmaßen fallen diejenigen ¯VV, bei deren Auflösung beide Stimmen nach oben in P1, P8 oder P5 schreiten unter das Verbot der Regel 24.
Regel 52 ¯VV, die sich in der Unterstimme durch einen Sekundschritt nach oben auflösen, können eine P1, P8, P5, b6 oder M6 als Auflösungsintervall haben.
Regel 53 Zwischen dem ¯V und seiner Auflösung – gleichgültig, ob diese aufwärts oder abwärts geschieht – können ein Ton oder mehrere eingeschoben werden. Diese Einschiebsel stehen meist im Sekundschritt zum ¯V selbst oder zur Auflösung. Bei mehr als einem eingefügten Ton wird entweder der Ton des ¯V wiederholt werden oder der Auflösungston vorausgenom­men werden müssen, was für beide eine Schwächung ihrer Kraft bedeutet.

Mit der Möglichkeit zwischen dem ¯V und seiner Auflösung Töne einzuschieben, kommt es oftmals dadurch zu mehrdeutigen Melodie­formeln, dass die eingeschoben Noten nicht als solche, sondern vielmehr als eigenständige Floskeln wahrgenommen werden können. Diese Mehrdeutigkeit der Melodieformeln, die sich mit der Anwendung der folgenden Gattungen keineswegs verringern wird, erschwert zwar den Lauf der betrachtenden Zergliederung. Sie ist aber stets ein Zeichen von Reichtum, Wendigkeit und Schlagkraft der Melodik.

Alle bis jetzt besprochenen Melodieformeln standen, jede in einer anderen Weise, in Sekundbeziehung zu einem Hauptintervall der Grup­pe A; damit sind allerdings noch nicht alle denkbaren Fälle sekundmäßigen Zusammenschlusses erschöpft: Abspringender Nebenton (N¯) und Anspringender Nebenton (¯N).

Wird nach einer sekundmäßigen Vorbereitung die Auflösung eines ¯V durch einen Sprung anstatt eines Schrittes erreicht, so bezeichnet man diese Floskel als abspringenden Nebenton (N¯). Die Vorbereitung kann auch durch einen Sprung geschehen an die sich dann die Auflösung schrittweise anschließt. Hierbei handelt es sich um einen anspringenden Nebenton (¯N).
Regel 54 Der N¯ steht im Sekundabstand nach einem Zusammenklang der Gruppe A auf schlechter Taktzeit. Der nach ihm folgende Ton darf nur durch einen Sprung erreicht werden.
Regel 55 Der ¯N steht auf schlechter Taktzeit nach einem Zusammenklang der Gruppe A, von diesem durch einen Sprung getrennt. Den auf ihn folgenden Ton darf er nur mittels eines Sekundschrittes erreichen.

Die Nebentöne kommen nur bei relativ kurzen Zeitwert zu ihrer eigentlichen Wirkung. Bei zu langer Dauer werden diese Nebennoten wie alle anderen Melodieformeln zu Bestandteilen selbstständiger Klänge und müssen dann nach den bekannten Vorschriften behandelt werden bzw. sie sind, falls sie zu den Intervallen der Gruppe B gehören, nicht verwendbar. In ihrer gelindesten Form, wenn sie nämlich mit der Gegenstimme eine guten Zusammenklang bilden, verlieren sie ihren ausgeprägten Nebentoncharakter, sie können dann bis zum Ver­wechseln einem ¯V ähneln. Aber selbst, wenn sie ihre Gegenstimme zu den besten Zusammenklängen (P5 und P4) ergänzen, ist es emp­fehlenswert, die Nebentöne statt selbstständige Klänge anzunehmen, da die harmonische Gliederung eines Tonsatzes dadurch bedeutend vereinfacht wird.

Zum Schluss folgen noch die beiden Melodieformeln, deren Sekundbindung zu den Nachbartönen teilweise oder ganz aufgehoben ist. Es sind der betonter Freiton () und der unbetonte Freiton (F).

Regel 56 Der steht auf besserer Taktzeit als sein Folgeton (der zu einem Zusammenklang der Gruppe A gehört), ist von kurzem Zeitwerte und wird mit einem Sprung verlassen. Bei ihm kann wenigstens zum vorangehenden Tone noch eine Sekundbe­ziehung stehen.
Regel 57 Beim F ist auch diese Sekundbeziehung verschwunden. Er steht immer auf schlechterer Taktzeit als sein Folgeton (der zu einem Zusammenklang aus der Gruppe A gehört), wird mit einem Sprung erreicht und mit einem Sprung verlassen.

und F bilden mit der anderen Stimme zusammen meist eine Klang der Gruppe B oder den TT. Der ist eine Abart des ¯N, er unter­scheidet sich von ihm durch den Sprung, der zwischen dem -Ton und seiner »Auflösung« liegt. Dieser Sprung ist es auch, der den F von einem ¯N und N¯ unterscheidet: Man könnte sagen, dass der F aus einem Zusammentreffen von ¯N und N¯ entstehe. Vielfach ähnelt er auch einem W; dann nämlich, wenn der ihm nachfolgende Ton der gleiche ist wie der ihm vor­angehende. Diese Art des F unterscheidet sich von einem springenden W dadurch, dass durch ihn andere Klänge als Drei­klänge gebrochen werden. und F heben ebenso wie ¯N und N¯ die Regel 29 auf, aber auch die Regel 30 versagt völlig diesen beiden freien Melodieformeln gegenüber.

Es bleibt noch zu erwähnen, dass es nicht unbedingt erforderlich ist, die Formeln beiderseitig an selbstständige Intervalle der Gruppe A an­zuschließen. Wie schon mehrere aufeinanderfolgende D die freien Strecken zwischen den »guten« Tönen ausfüllen, befreien auch die eingeschobenen Noten zwischen ¯V (N¯) und deren Auflösung die enge Klammer der sie umgebenen A-Intervalle. Bei guten Melodien sind häufig Kombinationen der einzelnen Floskeln zu finden. Es bedarf allerdings einer Warnung vor einer Häufung allzuvieler Formeln. Sie können bedingen, dass das klare Melodie- und Klanggebilde der zweistimmigen Sätze in die völlige Undeutlichkeit und den unkontrol­lierbaren Tonmorast absinkt.

Es wurden nun sämtliche möglichen Melodieformeln besprochen. Die Bedingungen, welchen sie in strenggeführter Art des zweistimmigen Satzes unterworfen sind, gelten nicht für alle Satzarten. Sie werden in einer komplizierteren, mit widerspenstigerem Material arbeitenden zweistimmigen Setzweise und besonders im drei- und mehrstimmigen Satz auftauchen. Das Wesen der Formeln wird zwar nicht verändert, aber sie werden einer anderen Umgebung angepasst werden.


Fehlerhinweise, Kommentare und Anregungen sind mir herzlich willkommen.

Letzte Aktualisierung: 2012-08-15